Mount McKinley - Der eiskalte Riese

EXPEDITION ZUM KÄLTESTEN BERG DER WELT
 

Dieser Bericht erschien im:
Altenburger Geschichts- und Hauskalender 1995, 4. Jahrgang in neuer Folge.
E. Reinhold Verlag Altenburg.
 


Der Südgipfel des Mount McKinley in Alaska ist mit seinen 6.194 Metern bzw. 20.320 feet die höchste Erhebung des nordamerikanischen Kontinents. Freistehend ragt er aus den Niederungen der Tundra empor und übertrifft dabei an Höhe alle umliegenden Berge. Außer seinem unmittelbaren Nachbarn, dem 5.303 Meter hohen Mount Foraker, erreichen die meisten Gipfel der Alaska Range mit wenigen Ausnahmen keine 4.000 Meter. Auch steht an keinem anderen Ort der Welt ein Berg von der Größe des McKinley so weit im Norden, gerade noch vor dem Polarkreis. Kein Wunder, daß dieses gewaltige Bergmassiv Wetter, Klima und Vegetation in seiner unmittelbaren Umgebung maßgeblich beeinflußt. Den Niederschlagsmengen entsprechend, befinden sich auch die größten Gletscher an seiner Südseite. Der längste unter ihnen ist mit 73 Kilometern der Kahiltna-Gletscher, über den auch die Aufstiegsroute zum Gipfel des McKinley führt. Aus alpinistischer Sicht also ein erstrebenswertes Ziel für jeden Bergsteiger.
Zwei Mitglieder des Deutschen Alpenvereins (Andreas Drechsler von der Sektion Leipzig und Rainer Bauch von der Sektion Altenburg) reisten im Mai 1994 nach Alaska, um dort den Mount McKinley über die West-Buttress-Route zu besteigen.
 
Blick zum 6.194 m hohen "Mount McKinley" in Alaska.

Der Denali (so wird er von den Athabasken-Indianern Alaskas genannt, was in unsere Sprache übersetzt etwa „Der Große“ bedeutet) gilt aufgrund seiner großen Höhe und subpolaren Lage auch als der kälteste Berg der Welt. Hinsichtlich der dort auftretenden Temperaturen (unter Normalbedingungen in den Sommermonaten Mai und Juni herrschen oberhalb von 4.000 Meter Höhe Durchschnittswerte von minus 25 bis minus 30 Grad Celsius) ist er nur noch mit den Bergen Patagoniens und der Antarktis vergleichbar. Doch mit Extremwerten von über 40 Grad minus muß im Sommer ebenfalls gerechnet werden. Zudem ist er durch seine nördliche Lage und der Nähe zur Beringsee häufigen und teils dramatischen Wetterwechseln, verbunden mit extremen Windgeschwindigkeiten, ausgesetzt.
Auch gibt die absolute Höhe des McKinley allein nur wenig Auskunft darüber, auf welche tatsächlichen Verhältnisse man am Berg trifft. Da nämlich die Erdatmosphäre in Polnähe dünner ist als im Äquatorialbereich, ist auch der Luftdruck und der Sauerstoffpartialdruck wesentlich niedriger als an gleich hohen Bergen in anderen Regionen. Die Folge: In Gipfelnähe des Denali herrschen Luftverhältnisse, wie man sie beispielsweise im Himalaja erst in über 7.000 Meter Höhe antrifft.
 

Die Geschichte der Erstbesteigung des McKinley ist recht widersprüchlich. Hierüber gibt es auch die unterschiedlichsten Aussagen. Im Jahr 1906 behauptete der Polarforscher Dr. Frederick Cook, den McKinley bestiegen zu haben und beschreibt dieses Unternehmen sogleich in dem Buch "To the top of the Continent". Genauere Nachprüfungen ergaben jedoch, daß Cooks Gipfelgang nie stattfand.
Drei Jahre später organisierte der Goldsucher Tom Lloyd mit Peter Anderson, Charley McGonagall und Bill Taylor eine Expedition zum McKinley. Ihr Ziel war der 5.934 Meter hohe Nordgipfel, der Ihnen als der höchste Punkt des Berges erschien. Sie fanden von der Nordseite her einen Zugang zum Muldrow-Gletscher über den heutigen McGonagallpaß. Im April 1910 wurde auch bei schlechten Wetterverhältnissen der Nordgipfel erreicht. Doch man ahnte bereits, daß es sich hierbei nicht um den höchsten Punkt des McKinley handeln konnte. Dennoch wurde durch Tom Lloyd kurzerhand das Gerücht verbreitet, alle Teilnehmer hätten beide Gipfel bestiegen. Daraufhin regnete es Lob und Glückwünsche. Doch die Wahrheit ließ sich auf Dauer nicht verheimlichen. Am Ende wurde sogar die erfolgreiche Besteigung des Nordgipfels in Frage gestellt.
Im Jahr 1912 schaffte es Professor Herrschel mit seiner vierköpfigen Mannschaft, ebenfalls auf der Muldrow-Route, bis auf eine Höhe von 6.148 Meter vorzudringen. Doch ein orkanartiger Sturm zwang ihn, nur 45 Meter unterhalb des Hauptgipfels, zur Umkehr. Der Denali hatte seine Angreifer nochmals abwehren können. Die Erstbesteigung des höchsten Berges Nordamerikas gelang schließlich am 7. Juni 1913 dem bischöflichen Erzdekan von Yukon, Hudson Stuck, in Bekleidung von Harry Karstens, Robert Tatum und Walter Harper. Und als erste Frau stand am 6. Juni 1947 Barbara Polk auf dem Gipfel.
Erst 1951 wird durch Bradford Washborn eine neue Route von Süden her eröffnet. Er erreicht den Gipfel des McKinley über den Westpfeiler (West-Buttress). Auch heute noch wird diese Route von den meisten Expeditionen benutzt. Die von ihm erstellte, wahrscheinlich beste topographische Landkarte des Gebietes um den Denali (Maßstab 1 : 50.000) wurde auch von uns bei der Expedition 1994 verwendet.
 

Von Talkeetna aus, einer kleinen Ortschaft mit etwa 500 Einwohnern und dem Sitz der Bergsteiger-Ranger-Station des Denali Nationalparks, erreichten wir nach etwa einer Flugstunde das 2.100 Meter hoch gelegene Basislager. Das kleine Flugzeug landete sicher auf der Southeast Fork (Südostgabel) des Kahiltna-Gletschers, dem Ausgangspunkt für die Besteigung des McKinley. Wir waren plötzlich umgeben von einer Welt aus Eis, Schnee und Fels.
Anders als in den Alpen oder den Hochgebirgen Zentralasiens befindet sich die Schneegrenze in Alaska bei etwa 1.000 Meter. Und vom Basislager bis zum Gipfel mußten exakt 4.100 Höhenmeter bewältigt werden; ein Höhenunterschied, der nicht einmal am Mount Everest im Himalaja anzutreffen ist.
Je nach Wetterlage benötigt man für eine Besteigung über die West-Buttress-Route, einschließlich der erforderlichen Höhenakklimatisation, zwischen 15 und 22 Tage. Ich überlegte hier ständig, ob meine Trainingsvorbereitungen für diesen Berg umfangreich genug waren. Doch letztendlich entschieden vor allem die eigene Motivation und die Selbstüberwindung, um auch körperlichen Strapazen und Entbehrungen gegenübertreten zu können.
 
Blick vom BC zum Mount McKinley. Unser Camp 1 am Tag nach dem Schneesturm.

Für den Aufstieg über den weitläufigen Kahiltna-Gletscher bis zum Lager 2 auf 3.300 Meter verwendeten wir Tourenski mit Steigfellen sowie gemeinsam einen Plastikschlitten für zusätzliches Gepäck. Bei schlechtestem Wetter und einer stürmischen ersten Nacht wurde dieses Lager erst nach drei Tagen erreicht. Danach erfolgte (am 21. Mai) ein mühsamer Aufstieg in Richtung Lager 3, um dort ein Materialdepot anzulegen. Doch am Windy Corner in 4.000 Meter Höhe zwang uns ein orkanartiger Schneesturm zur Umkehr. Die mitgeführte Ausrüstung und Verpflegung wurde daraufhin unter Steinplatten an der Felsecke des Windy Corner deponiert.

Erst zwei Tage später (am 23. Mai) erschien die Wetterlage günstig, um erneut den Aufstieg zum Lager 3 auf 4.350 Meter Höhe zu versuchen. Doch am Windy Corner überraschte uns erneut ein eisig kalter Sturm. Nur mühsam kämpften wir uns zwischen den einzelnen Sturmböen höher.
Im Lager 3 angekommen, mußte zunächst eine Windschutzmauer aus Schneeblöcken um unser Zelt herum errichtet werden; eine ziemlich anstrengende Arbeit aufgrund der ungewohnten Höhe und der inzwischen bewältigten 1.050 Höhenmeter. Doch das Schlimmste stand uns noch bevor; der Abstieg zurück zum Windy Corner am gleichen Abend, um von dort die deponierte Ausrüstung und vor allem unsere gesamte Verpflegung für die kommenden Tage zu holen. Erst nach 22.00 Uhr trafen wir wieder im Lager 3 ein. Bei diesem erneuten Ab- und Aufstieg kam uns entgegen, daß es am McKinley im arktischen Sommer nie vollständig dunkel wurde und somit keine Orientierungsprobleme auftraten.
Die nächsten beiden Tage dienten der Höhenakklimatisation. Während dieser Zeit hielten wir uns weitestgehend im Lager 3 auf. Dort befand sich auch ein Zeltcamp der Bergsteiger-Ranger, welches mit einer Funkanlage ausgestattet und mit einem Arzt besetzt war.

Am 26. Mai begann der Aufstieg ins Hochlager auf 5.250 Meter, um von dort einen Tag später zum Gipfel aufzubrechen. Die ersten ca. 350 bis 400 Höhenmeter über ein steiles Firnfeld waren zwar anstrengend, doch recht schnell bewältigt. Hier entschieden wir uns auch, die Normalroute zu verlassen und durch den „rescue gully“ direkt zum Hochlager aufzusteigen. Dies bedeutete die Überwindung einer etwa 600 Meter hohen und im Mittel 50 Grad geneigten Eisflanke.
Zunächst wurde zu einem etwa 12 bis 15 Meter hohen Eisabbruch gequert, der sich bald als ernsthaftes Hindernis herausstellte. Von weitem kam die Steilheit gar nicht so richtig zur Geltung. Um so überraschter waren wir, als vor uns der Eisabbruch in Gestalt einer fast senkrechten Eiswand empor ragte. Im nachhinein schätzten wir die Neigung auf mindest 75 Grad.
 
Aufstieg vom Camp 3 zum Hochlager auf 5.250 m. Hier beim Aufstieg durch die ca. 12 - 15 m hohe Eiswand (Eisabbruch) am Anfang der Steilflanke zum „rescue gully“. Blick vom Westgrat-Sattel in unsere Aufstiegsflanke mit dem „rescue gully“. Der Ausstieg direkt zum Hochlager befindet sich am Ende der nach oben schmaler werdenden und über 50 Grad steilen Eisrinne.

Als erster kletterte Andreas die Wand empor und ich folgte, nachdem er den Ausstieg bewältigt hatte. Die ersten Meter kam ich recht gut voran, doch zunehmend wurde die Wand steiler. Mit nur einem Eisgerät ausgestattet war es ziemlich schwierig, beim Schlagwechsel das Gleichgewicht zu halten. Hinzu kam, daß einem der schwere Rucksack mit etwa 20 Kilogramm regelrecht von der Wand wegzog. Bei jedem Schlag mußte daher die Haue fest im Eis sitzen. Dies erst recht, da das Eis ziemlich hart und dadurch sehr spröde war. Mehrfache Ansätze erforderte es jedoch, bis die jeweiligen Frontalzacken der Steigeisen richtigen Halt fanden. Doch Tritt für Tritt schob ich mich langsam nach oben. Durch die Konzentration war die enorme Anstrengung des Aufstiegs zunächst nicht zu spüren. Schließlich durfte mir kein Fehler unterlaufen, denn wir kletterten ohne Seilsicherung. Aus Gewichts- und Schnelligkeitsgründen wurde das Bergseil im Lager 3 zurück gelassen. Wir hatten aber auch nicht mit solch schwierigen Kletterstellen bzw. Eispassagen abseits der Normalroute gerechnet. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr.
Dann erkannte ich den oberen Rand. Nur noch ein paar Schrittfolgen und ich wälzte mich über die Eiskante auf einen kleinen Absatz. Dort blieb ich aufgrund der Anstrengung völlig ausgepumpt liegen und glaubte zunächst, ersticken zu müssen. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis ich wieder genug Luft bekam, um aufzustehen. Andreas tröstete mich und meinte, ihm ging es kurz zuvor ebenso.
Der weitere Aufstieg besaß zwar nicht mehr diese Steilheit, hatte es aber dennoch in sich. Ein Großteil der Eisflanke war mit einer dünnen Firnauflage überzogen, die nicht immer die nötige Festigkeit bzw. Verbindung zum Untergrund aufwies. Volle Konzentration über den gesamten Zeitraum des Aufstieges trotz äußerster Anstrengung war also notwendig. Exakt 14 Schritte schaffte ich hintereinander, dann folgte eine Pause zum durchatmen von mindestens 30 Sekunden. Bei dieser Geschwindigkeit rechnete ich mir unterwegs ständig aufs Neue aus, wie lange ich für 100 Höhenmeter benötige, wann ich an den Felsen eintreffe und das Hochlager erreiche. Es war deprimierend, denn es handelte sich jeweils um Stunden. Dabei mußte man sich auf jeden Schritt konzentrieren. An fotografieren war ohnehin nicht zu denken. Zu steil, zu abschüssig, zu gefährlich, um sich noch mit anderen Dingen zu beschäftigen. Auch drängte die Zeit, denn das Wetter verschlechterte sich zusehends. Dann waren endlich die Felsen erreicht. Hier, in einer Höhe von etwa 5.100 Metern, beginnt auch der Einstieg in eine nach oben schmaler werdende Eisrinne, die zu beiden Seiten von Felswänden begrenzt wird. Gut zwei Drittel der Route hatten wir jetzt bewältigt. Auf einer kleinen Felsnase, die aus der Eisflanke herausschaute, konnte ich endlich meinen Rucksack vorsichtig abstellen und wärmende Kleidung anziehen. Nebel und Sturm hatten schon seit einiger Zeit die Sonne vertrieben und uns mächtig zu schaffen gemacht. Es war ein angenehmes Gefühl in dicken Handschuhen und winddichtem Anorak. Noch ein Schluck aus der Thermosflasche und der Aufstieg wurde fortgesetzt.
Etwa 150 bis 200 Höhenmeter, dann müßte alles geschafft sein. Doch die Steilheit nahm nicht ab - im Gegenteil. Auch trafen wir jetzt auf Blankeis, bei einer Neigung von mindest 50 Grad. Andreas ist kurz vor mir durch die Eisrinne zwischen den Felsen zum Hochlager aufgebrochen. Er konnte nicht länger warten, da seine Füße bereits vor Kälte schmerzten. Als ich ihm folgte, war er im Sturm bald nur noch in groben Umrissen zu erkennen. Unsere Lage verschlechterte sich plötzlich. Der Sturm wurde zum Orkan und dadurch erhöhte sich auch die Gefahr, in der wir uns befanden.
Jeweils zwischen den Sturmböen mußten wir dann versuchen, so weit wie möglich aufzusteigen. Doch die dünne, sauerstoffarme Luft in über 5.100 Meter Höhe machte sich inzwischen bemerkbar. Auch erhöhte sich die technische Schwierigkeit der Route im harten Eis. Folgte dann eine Sturmböe, mußte man sich mit dem Eisklettergerät verankern, um nicht umgerissen zu werden. Dieser letzte Steilanstieg durch die Eisrinne wies nochmals geschlossen alles auf, was die Gefährlichkeit am McKinley ausmacht. Doch schließlich hatten wir es geschafft. Nur wenige Meter neben dem Ausstieg des „rescue gully“ befand sich das Hochlager (Camp 4).
Ein geeigneter Lagerplatz für unser kleines Bergzelt war schnell gefunden, welches unter Sturmbedingungen aufgestellt und mit allen zur Verfügung stehenden Gegenständen (Eisgerät, Schneeschaufel, Teleskopstöcke und Steigeisen) befestigt wurde.
Nach einer stürmischen Nacht mußten wir jedoch das Hochlager am nächsten Tag wegen anhaltendem Schlechtwetter wieder räumen und über die Normalroute (Westgrat) zurück zum Arzt-Camp auf 4.350 Meter absteigen. Dies war keine leichte Entscheidung. Aber das Risiko, trotz angekündigter Höhenstürme längere Zeit auf 5.250 Meter auszuharren, erschien uns zu groß.

Doch schon einen Tag später (am 28. Mai) kam es unerwartet zu erneuter Wetterbesserung. Laut Auskunft der Bergsteiger-Ranger im Arzt-Camp sollte die Hochdruckphase etwa drei Tage anhalten. Wir entschlossen uns deshalb, unverzüglich ein zweites Mal zum Hochlager aufzubrechen. Diesmal wurde als Aufstiegsroute die mit Fixseilen versehene und bis zu 45 Grad steile Eisflanke zum Westgrat-Sattel gewählt. Oberhalb dieser Fixseile folgte dann der eigentliche West-Buttress- bzw. Westgrat, eine schöne, felsdurchsetzte Kletterroute mit vereisten Passagen, die wir bereits beim Abstieg einen Tag zuvor kennengelernt hatten. Im Gegensatz zu den meisten Gruppen verzichteten wir wieder zugunsten der Krafteinsparung und Schnelligkeit am Berg auf Seilsicherung. Auch das Wetter spielte endlich mit und erlaubte eine hervorragende Fernsicht.
Doch mit fast 40 Grad unter Null erlebten wir auch im Hochlager die wohl kälteste Nacht am McKinley. Die Zeltinnenwand und unsere Schlafsäcke (besonders am Kopfbereich) waren durch das Atmen völlig vereist. Wie jeden Tag oberhalb von 4.000 Meter mußte ich auch diesmal meine Füße mit der Fleece-Jacke einwickeln und konnte erst dann in den Schlafsack kriechen. Sie wären sonst nie warm geworden. Dennoch hatte ich im Hochlager erstaunlich gut geschlafen.

Am nächsten Morgen (29. Mai) kostete es trotz Sonnenschein Überwindung, das Zelt zu verlassen. Schließlich zeigte das Thermometer noch immer auf minus 28 Grad Celsius. Ein zu zeitiger Aufbruch (selbst am Tag des Gipfelaufstiegs) war deshalb aufgrund der tiefen Temperaturen nicht ratsam. Doch das Zubereiten von Getränken und gefriergetrockneter Fertignahrung im Zelt nahm ohnehin Stunden in Anspruch. Insbesondere viel Trinken ist in großer Höhe lebensnotwendig; auch dann noch, wenn das Durstgefühl nachläßt. Man schwitzt zwar bei körperlicher Anstrengung oberhalb von 4.000 Meter nicht mehr, doch der Flüssigkeitsverlust erfolgt über die Atmung und beträgt dann etwa fünf bis sechs Liter täglich. Entsprechend hoch ist deshalb auch der Bedarf an Getränken, um diesen Verlust auszugleichen.

Beim Anziehen der Bergschuhe außerhalb vom Zelt spürte ich plötzlich meine Füße nicht mehr. Die extreme Kälte mit etwas Wind hatten eine sofortige Auskühlung bewirkt. Erst nach über einer Stunde intensiver Massage kam das Gefühl wieder zurück. Mit leichter Verspätung begann dadurch der Aufstieg vom Hochlager zum Gipfel des McKinley. Etwa 1.000 Höhenmeter waren jetzt noch zu überwinden. Doch das eigentliche Problem bestand in der großen Entfernung, die hierbei zurückgelegt werden mußte. In Zeitnot gerieten wir aber nicht, da die Sonne im arktischen Sommer nicht mehr versinkt und somit eine Orientierung am McKinley in den taghellen Nächten jederzeit möglich ist.
 
Blick vom Westgrat aus etwa 5.200 m Höhe zum Mount Hunter (4.441 m) und im Vordergrund zum Kahiltna Peak (4.097 m). Der Autor auf dem Gipfel des Mount McKinley - 29. Mai 1994.

Unterhalb vom Denali-Paß kamen uns mehrere Bergsteiger entgegen, die wegen großer Kälte und Sturm den Gipfelaufstieg abgebrochen hatten. Doch wir setzten nach einer kurzen Rast am Paß den Aufstieg fort. Es war auch unsere letzte Chance, den Gipfel zu erreichen. Für weitere Anläufe hätte die noch vorhandene Verpflegung kaum ausgereicht. Sorgen bereiteten mir vor allem zwei Dinge: das Wetter (was sich zusehends verschlechterte) und mögliche Erfrierungen aufgrund der extremen Kälte. Es war kaum möglich, unterwegs ausgiebig zu fotografieren. Selbst mit Handschuhen aus Fleece wurden die Finger in wenigen Sekunden eisig kalt und gefühllos. Während des Aufstiegs konzentrierte ich mich fast ausschließlich auf das Zählen meiner Schritte. Anfangs schaffte ich 25, später nur noch 13 Schritte hintereinander. Danach mußte ich auf die Teleskopstöcke gestützt mindest 40 Sekunden lang tief durchatmen, um wieder zu Kräften zu kommen.
Bei etwa 5.900 Meter machten wir die nächste größere Rast. Zwei Süd-Koreaner, die zu uns aufgeschlossen hatten, stiegen hier wieder ab. Wenig später wurde eine Anhöhe erreicht, von wo aus das Gipfelmassiv des McKinley mit seiner gesamten Breitseite und der dortigen Aufstiegsroute einzusehen war. Dazwischen befand sich das sogenannte „Fußballfeld“, eine große und von unserem Standort aus etwa 40 bis 50 Meter tiefer gelegene Mulde. Um zum Gipfelmassiv zu gelangen, mußte dieses „Fußballfeld“, welches sich auf etwa 5.950 Meter Höhe befindet, überquert werden. Doch jeder Schritt, jede Tätigkeit kostete hier oben Überwindung. Die Sturmhaube aus dickem Polar-Fleece veränderte sich infolge der Mundatmung zu einer steifen Eismaske. Ständig mußte auch die Nasenspitze warm gerieben werden und beim Ausziehen der Handschuhe schmerzten die in der Kälte aufgeplatzten Hände. Es herrschten Temperaturen von etwa 30 Grad unter Null. Andreas bekam Probleme mit seinen Füßen. Hatte er sich beim Aufstieg durch den „rescue gully“ vor einigen Tagen Frostschäden eingehandelt, so drohten ihm jetzt ernsthafte Erfrierungen.
Doch nach einem letzten und in dieser Höhe sehr anstrengenden Steilanstieg erreichten wir schließlich den Gipfelgrat, über den dann genau um 18.40 Uhr Ortszeit der höchste Punkt und damit der Gipfel des 6.194 Meter hohen Mount McKinley betreten wurde. Damit hatten wir unser Bergziel nach genau 12 Tagen (vom Basislager aus gerechnet) am 29. Mai erreicht.
Auf dem Gipfel befand sich eine kleine Fahnenstange mit einem Wimpel und der Inschrift „Summit“. Gleich daneben steckte noch eine Hülse mit dem Signet des Schweizer Alpenclubs. Ich machte ein paar Fotos und hängte dann einen Wimpel mit dem Wappen der Stadt Altenburg über die kleine Fahnenstange. Wegen extremer Kälte und aufkommenden Sturm erfolgte kurz darauf der Abstieg. Nur etwa 20 Minuten betrug der Aufenthalt auf dem Gipfel. Gegen 21.30 Uhr trafen wir wieder im Hochlager ein.

Am Tag danach herrschte erneut schlechtestes Wetter. Die Vorhersage der Bergsteiger-Ranger traf demnach wieder nicht vollständig zu. Doch wir hatten uns schon an derartige Verhältnisse gewöhnt. Bei Sturm und Nebel räumten wir dann als eine der letzten Seilschaften das Hochlager, ohne es besonders eilig zu haben.
Während es Abstiegs über den Westgrat tauchte dann plötzlich vor uns im Nebel eine größere amerikanische Seilschaft auf, die nur sehr langsam voran kam. Es stellte sich bald heraus, daß sie einen verletzten Kameraden bergen mußten, der sich bei einem Sturz an der Hüfte schwer verletzt hatte und selbständig nicht mehr klettern konnte. Dies unterstrich nochmals deutlich die Gefährlichkeit einer Besteigung des McKinley, besonders bei schlechten Wetterbedingungen. Die Kletterei gewinnt zudem an Schwierigkeit durch das Gewicht der Rucksäcke und der großen Höhe.

Für den Abstieg vom Hoch- bis zum Basislager wurden insgesamt zwei Tage benötigt, wobei die Skiabfahrt ab Lager 2 in 3.300 Meter Höhe über den weitläufigen Kahiltna-Gletscher trotz ungünstiger Schneeverhältnisse (Bruchharsch) enormen Zeitgewinn brachte. Doch erst mit dem Eintreffen im Basislager am 1. Juni um 00.30 Uhr konnten wir die Bergexpedition als beendet ansehen. Noch am gleichen Tag erfolgte um die Mittagszeit der Rückflug nach Talkeetna.

Während der Besteigung des Mount McKinley wurden durch uns (einschließlich der Mehrfachaufstiege) 6.325 Höhenmeter überwunden und eine Gesamtstrecke von über 62 Kilometer zurückgelegt.

Wie wir später bei unserer Rückmeldung in der Bergsteiger-Ranger-Station von Talkeetna erfuhren, erreichten bis Ende Mai nur 16 % aller Expeditionen den Gipfel des Mount McKinley. Ein Grund hierfür waren sicher die unbeständigen Wetterverhältnisse, die während dieser Zeit dort herrschten. Auch fanden im Mai 1994 sechs Koreaner bei dem Versuch, den Gipfel zu besteigen, den Tod.
 
 
 

Rainer Bauch
DAV, Sektion Altenburg e.V.

im August 1994                                                                                         zurück zur McKinley-Startseite